Der Übersetzungsprozess

Martin Fischer beschreibt das Übersetzen als eine Handlung mit mindestens zwei Beteiligten – dem Ausgangstextautor sowie dem Übersetzer. Hinzu kommen normalerweise noch ein oder mehrere Auftraggeber und die Zielsprachenleser. Außerdem sind die Faktoren zu erwähnen, die auf den Übersetzungsvorgang wirken, wie z. B. gesellschaftliche und sprachliche Konventionen, kulturelle Zwänge, die unterschiedlichen Erwartungen aller Beteiligten sowie auch Zeit und Geld (vgl. Fischer, 2006:116).

Christiane Nord beschreibt den Übersetzungsprozess in einem Zirkelschema. Demnach müssen zunächst die Zieltextvorgaben und anschließend der Ausgangstext analysiert werden. Dann folgt die Phase des Informationstransfers. Abschließend wird der Zieltext angefertigt (vgl. Nord, 1995:36). Sie bezieht also nicht nur die Faktoren mit ein, die direkt auf den Übersetzungsprozess wirken, sondern ebenfalls die Elemente, die Einfluss auf die Entscheidungen des Übersetzers haben (vgl. Fischer, 2006:117).

Reiß und Vermeer geben zu bedenken, dass die Translation keine einfache Transkodierung der Bedeutung eines Textes ist, sondern dass der Übersetzer den Text zunächst verstehen und den Textgegenstand innerhalb einer Situation interpretieren muss, um den Sinn / das Gemeinte des Textes innerhalb einer bestimmten Situation in der Übersetzung wiederzugeben (vgl. Reiß / Vermeer, 1991:58). Hierzu führt Nord jedoch aus, dass der Sinn eines Textes von Sprache zu Sprache und von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein kann (vgl. Nord, 1989:100).

Der hermeneutische Ansatz der Übersetzungswissenschaft geht auf diese Problematik näher ein. Zu erwähnen sind hier zunächst die Überlegungen von Radegundis Stolze. „Die Leistung der Hermeneutik als Kunst der Auslegung besteht grundsätzlich darin, einen Sinnzusammenhang aus einer anderen ‚Welt‘ in die eigene zu übertragen, so daß [!] er ‚verstanden‘ werden kann“ (Stolze, 1992:46). Sie unterscheidet bezüglich des Verstehens das Verstehen, das Nichtverstehen, das Andersverstehen und das Missverstehen. Während das Verstehen den Idealfall darstellt, ist das Nichtverstehen das genaue Gegenteil davon. Nichtverstehen wird hervorgerufen durch fehlende Sprachkenntnisse, lückenhaftes Wissen oder fehlende kulturelle Gegebenheiten der Ausgangssprachenkultur in der Zielsprachenkultur. Andersverstehen wird ausgelöst durch veränderte kulturelle Voraussetzungen, wie z. B. die Veränderung einer Wortbedeutung im Laufe der Geschichte. Missverstehen definiert Stolze als falsches Verstehen, was jedoch durch den Kontext wieder richtig gestellt werden kann (50 ff.).

Auch Sigrid Kupsch-Losereit beschäftigt sich mit dem hermeneutischen Ansatz. Sie schreibt, dass die Sprache des Verstehenden und des Ausgangstextes immer unterschiedlich ist. Diese hermeneutische Differenz kann durch eine erneute Sinnproduktion durch den Übersetzer überwunden werden (vgl. Kupsch-Losereit, 1993:205). Dabei wird Verstehen als das Verstehen historischer kommunikativer Situationen definiert (208). „Unter Situation sind alle natürlichen und soziokulturellen Bedingungen wie etwa gesellschaftliche Normen und Konventionen, Wertungen, erworbene Praktiken und entsprechendes Verhalten etc. zu verstehen, denen sich ein Individuum konkret oder in einem Text gegenübersieht“ (208). Um einen Text innerhalb einer bestimmten Situation zu verstehen, benötigt man oft ein spezielles Weltwissen und muss die Situation kennen. Der Übersetzer muss deshalb diese für den Zielsprachenleser fremde Situation erkennen und das beim Zielsprachenleser nicht vorhandene Wissen in der Übersetzung hinzufügen (215 f.). „Die Übersetzung fügt dem AT [Ausgangstext] keinen zusätzlichen Sinn bei, der nicht in ihm selbst angelegt wäre. Im Horizont der neuen Situation und der Tradition sowie der Wirkungsgeschichte ergibt sich aber ein neues / anderes Verstehen“ (216).

Quellen:

Fischer, Martin, (2006), Konrad und Gurkenkönig jenseits der Pyrenäen. Christine Nöstlinger auf Spanisch und Katalanisch, Frankfurt am Main, Peter Lang GmbH

Kupsch-Losereit, Sigrid, (1993), „Hermeneutische Verstehensprozesse beim Übersetzen“, in: Holz-Mänttäri, Justa; Nord, Christiane, Traducere navem. Festschrift für Katharina Reiß zum 70. Geburtstag, Tampere: Universität von Tampere, 203-218

Nord, Christiane, (1995), Textanalyse und Übersetzen, Tübingen: Julius Groos Verlag

Reiß, Katharina; Vermeer, Hans J., (1991), Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, Tübingen, Gunter Narr Verlag

Stolze, Radegundis, (1992), Hermeneutisches Übersetzen, Tübingen, Gunter Narr Verlag

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